Wer sind die Ukrainer? Ein kurzer historischer Ausflug
In schwierigen Zeiten für die Ukraine und die Ukrainer, in denen unsere Geistesstärke, unser Zusammenhalt und unsere moralischen Werte auf die Probe gestellt werden, ist die Frage der Selbstidentifikation besonders wichtig. Unserer Meinung nach ist es unmöglich, einen Platz in der Welt für sich zu beanspruchen, ohne die eigene Geschichte und Kultur zu kennen.
Aus diesem Grund starten wir eine neue Artikelreihe, in der wir über die wichtigsten historischen und kulturellen Meilensteine der Ukraine sowie über prominente Persönlichkeiten sprechen, die die Begriffe „Ukraine“ und „Ukrainer“ geschaffen und mit Bedeutung gefüllt haben.
Wir sind Nachkommen der Kyjiver Rus
In der Antike lebten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine viele Völker, die nacheinander ankamen oder gleichzeitig lebten. Dies waren die Anten und Sklaviner (alte Slawen), Skythen und Sarmatien (iranischsprachige Stämme), Goten (germanische Stämme) sowie Turkvölker.
Ende des 10. Jahrhunderts entstand das Staatsgebilde Kyjiver Rus mit der Hauptstadt Kyjiw. Seine Einwohner nannten sich selbst „Rus“ (im Plural) und „Rusyn“/„Rusynka“ (im Singular). Die Gebiete, die Teil der Kyjiver Rus waren, sind heute Teil der Ukraine, Belarus und Russlands. In der Frühphase seiner Geschichte spielten Skandinavier, die sogenannten Waräger, eine große Rolle.
Die berühmtesten Herrscher dieses Staates – Wolodymyr der Große und Jaroslaw der Weise – legten den Grundstein für sein politisches System und seine Kultur.
Während der Herrschaft Wolodymyrs (980–1015) nahm die Rus das Christentum an und für die Übersetzung religiöser Texte wurde die altkirchenslawische Sprache eingeführt (diese Sprache war bis zum 18. Jahrhundert die Literatursprache der Ostslawen). Während der Herrschaft Jaroslaws (1019–1054) wurden bedeutende architektonische Denkmäler Kyjiws errichtet: das Goldene Tor und die Sophienkathedrale (bis heute erhalten). Die Rus hatte familiäre Bindungen zu Byzanz (Jaroslaws Sohn Wsewolod war mit einer Verwandten von Kaiser Konstantin IX. verheiratet), Schweden (Jaroslaws Frau war die Tochter von König Olaf), Norwegen (Jaroslaws Tochter Elisabeth war die Frau von König Harald dem Schrecklichen), Polen (Sohn Isjaslaw war mit der Tochter von Prinz Kasimir verheiratet), Ungarn (Tochter Anastasia war die Frau von König Andreas I.) und Frankreich (Tochter Anna heiratete König Heinrich I.).
Die Zeit der staatlichen Einheit war nur von kurzer Dauer. Wie das Karolingerreich, das kurz nach dem Tod Karls des Großen zusammenbrach und aus dessen Fragmenten später Frankreich und Deutschland entstanden, verwandelte sich die Kyjiver Rus im 12. Jahrhundert in einen Flickenteppich aus Fürstentümern, aus denen später die Ukraine, Russland und Belarus hervorgingen.
Man kann sagen, dass sich die Wege der heutigen Westukraine und Zentralrusslands infolge der tatarisch-mongolischen Invasion (1237–1240) erheblich trennten, da die mongolische Herrschaft in den Gebieten, in denen die galizischen und wolynischen Fürsten herrschten, um 100 Jahre kürzer dauerte. Zu dieser Zeit nahm die Bedeutung Kyjiws, das vollständig zerstört war und dann unter der direkten Herrschaft der Goldenen Horde stand, erheblich ab, und erst Ende des 14. Jahrhunderts, als Kyjiw unter die Herrschaft des Großfürstentums Litauen kam, begann die allmähliche Wiederbelebung der ehemaligen Hauptstadt.
Wir sind Teil des europäischen Kulturraums
Im Laufe des 14. Jahrhunderts wurden ukrainische Gebiete in das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen eingegliedert, was entscheidende kulturelle Folgen für die Ukraine hatte. Insbesondere der Austritt Teil des Klerus und Gläubiger aus dem Patriarchat von Konstantinopel (zu dem seit der Taufe der Rus auch die Kyjiver Kirche gehörte) und die Vereinigung mit der römisch-katholischen Kirche infolge der Union von Brest im Jahr 1596.
In den 1570er Jahren begann der ukrainische Fürst Konstantin Ostroschski ein großangelegtes Verlagsprojekt und veröffentlichte 1581 die sogenannte Ostroger Bibel in einer Auflage von 1.500 Exemplaren. Eines der 400 erhaltenen Bücher kann in der Bibliothek der Harvard University besichtigt werden.
In dieser Zeit tauchte das als Ukraine beschriebene Gebiet erstmals auf Karten auf.
Wir stammen von Kosaken ab
Die ersten Erwähnungen ukrainischer Kosaken stammen aus dem Jahr 1492. Fast hundert Jahre später gründeten die Nieder-Kosaken (als jene Kosaken, die am Unterlauf des Dnjepr lebten) auf den Dnjepr-Inseln ein befestigtes Zentrum – die Saporoger Sitsch.
Das höchste gesetzgebende Organ der Armee war die Versammlung der Kosaken – der Kosaken-Rat. Er wählte und setzte den Hetman und die Kosaken-Ältesten ab und traf auch Entscheidungen in Verwaltungs-, Justiz- und Militärangelegenheiten.
Ein wichtiger Meilenstein in der ukrainischen Geschichte war die Unterzeichnung der Union von Lublin im Juli 1569, durch die die Rzeczpospolita entstand – polnisch-litauische Adelsrepublik (eine parlamentarisch-konstitutionelle Monarchie). Als Ergebnis dieser Vereinigung wurden die meisten ukrainischen Gebiete Teil eines einzigen Staates (die Woiwodschaften Kyjiw, Lwiw, Galizien, Cholm, Sjanock, Przemysl, Wolhynien, Podolsk, Bratslav und später Tschernihiw). Darüber hinaus behielten die ukrainischen und belarusischen Länder ihre sprachliche und rechtliche Autonomie und erklärten die Gleichheit des orthodoxen und katholischen Klerus.
Kosaken nahmen an den meisten militärischen Feldzügen der Rzeczpospolita teil, fungierten als Söldner in anderen europäischen Armeen und führten auch eigenständige Feldzüge durch. Allmählich begannen die Kosaken, danach zu streben, ihre Rechte und Privilegien denen des polnischen Adels (Szlachta) anzugleichen.
In den folgenden Jahren distanzierten sich die ukrainischen Kosaken aufgrund innerer Widersprüche, der schwachen Macht der Könige und oft erfolgloser Militäroperationen zunehmend von der polnischen Vision ihrer Rolle im Staat. Dies führte zu einem Aufstand unter der Führung von Bohdan Chmelnyzkyj, der im Bündnis mit dem Krim-Khan mehrere erfolgreiche Feldzüge gegen die polnisch-litauische Union durchführte. Dies führte zur Unterzeichnung des Zboriv-Abkommens im Jahr 1649, das die Gründung des Kosakenstaates als Autonomie innerhalb des Rzeczpospolita festschrieb. Offiziell hieß der neue Staat „Saporoger Armee“ (in der Literatur wird er üblicherweise „Hetmanat“ genannt). Doch damit war der Krieg noch nicht zu Ende und für die Kosaken nicht mehr so erfolgreich. Man war auf der Suche nach einem Protektor-Staat, und entschied sich für das Moskauer Zarenreich. Der im Januar 1654 geschlossene Vertrag von Perejaslaw wurde von den Parteien unterschiedlich bewertet: Für die Kosaken war er ein militärisch-politisches Bündnis, für den Zaren der erste Schritt zur Übernahme der Ukraine. Bereits 1656 verletzte das Moskauer Zarenreich die Vertragsverpflichtungen Perejaslaws, indem es mit der Rzeczpospolita einen Separatfrieden von Vilnius schloss. Nach Chmelnyzkyjs Tod brach in den ukrainischen Ländern ein Bürgerkrieg (Ruin) aus, und der Kosakenstaat spaltete sich in zwei Hetmanate – das linksufrige und das rechtsufrige. Dies ging mit häufigen Machtwechseln und militärischen Interventionen aller Nachbarstaaten einher.
Im Jahr 1687 wählten die Kosaken-Ältesten Iwan Mazepa zum Hetman. Dank geschickter Politik und Intrigen gelang es ihm, nicht nur für die nächsten zwanzig Jahre ein friedliches Leben im Staat zu gewährleisten, sondern auch einen Teil der rechtsdnjeprischen Gebiete dem Hetmanat anzuhängen. Erst der Krieg Russlands mit Schweden (der Große Nordische Krieg) und ein gescheiterter Versuch, sich aus der Abhängigkeit von Moskau zu lösen, beendeten seine Herrschaft. Nach der Schlacht von Poltawa im Jahr 1709 floh Mazepa und starb im Exil.
Mit Unterstützung des Osmanischen Reiches ernannte sich Pylyp Orlyk zum Nachfolger Mazepas und entwickelte im Jahr 1710 das erste Dokument in der ukrainischen Geschichte (die sogenannte Verfassung Pylyp Orlyks), in dem die Grundlagen des Staatssystems festgelegt wurden. Im 18. Jahrhundert schränkte das Russische Reich die Autonomie der Kosaken schrittweise ein und schaffte sie 1781 endgültig ab. Das Gebiet des Hetmanats wurde unter mehreren gewöhnlichen Provinzen aufgeteilt und der Titel des Hetmans wurde abgeschafft.
Nach dem Ende der Rzeczpospolita und der Übernahme der nördlichen Schwarzmeerregion (einschließlich der Krim) durch Russland vom Osmanischen Reich wurde das Territorium der Ukraine zwischen zwei Staaten aufgeteilt: Der größere Teil gehörte zum Russischen Reich, der kleinere Teil zum österreichischen Habsburgerreich (ab 1867 Österreich-Ungarn).
Wir sind die Nachkommen eines unbesiegten Volkes
Ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte der unabhängigen Ukraine war die Proklamation des ersten unabhängigen und souveränen Staates durch die ukrainische Zentralna Rada unter dem Vorsitz von Mychajlo Hruschewskyj am 22. Januar 1918. Die ukrainische Zentralna Rada, die unmittelbar nach dem Sieg der Revolution in Petrograd im März 1917 gegründet wurde, wurde zur Basis der nationalen Befreiungsbewegung und später zum höchsten gesetzgebenden Organ des Staates.
Leider war es damals nicht möglich, mit demokratischen Mitteln einen unabhängigen Staat zu bewahren (nach der Unterzeichnung des Brester Friedensvertrags und ausländischer Militärhilfe gegen die Bolschewiki geriet die Ukraine in die Abhängigkeit Deutschlands und Österreich-Ungarns, und später, am 29. April 1918, wurde infolge eines Putsches unter Führung von Pawlo Skoropadskyj die Zentralna Rada aufgelöst). Hinzu kam, dass einerseits das Fehlen einer Armee und andererseits die unzureichende militärische Unterstützung durch die europäischen Mächte es nicht erlaubte, diese Errungenschaften mit der Macht gegen die bolschewistische Offensive zu verteidigen.
Gleichzeitig wird anhand dieses historische Phänomen offensichtlich, dass die Prozesse der Konsolidierung der ukrainischen Nation, der Wiederherstellung der Staatlichkeit und der Beginn demokratischer Parlamentsreformen über den Rahmen einer rein isolierten historischen Tatsache hinausgehen und sie zeigen das reale Streben des ukrainischen Volkes nach Unabhängigkeit.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet der Ukraine Teil von vier Staaten: Rumänien (Bukowina und Budschak), Polen (Galizien und Wolhynien), Tschechoslowakei (Transkarpatien) und der Sowjetunion (das restliche Gebiet). Und sowohl vor als auch während des Zweiten Weltkriegs waren die Gebiete der Ukraine ständigen Veränderungen unterworfen und befanden sich auch im Besitz Ungarns (Transkarpatien), Rumäniens (Nordbukowina und Südbessarabien) und unter der Besatzung Nazideutschlands (praktisch das gesamte Gebiet).
In dieser Zeit erlebten die Ukrainer das Chaos des Bürgerkriegs von 1917 bis 1920, die Hungersnot (Holodomor) der 1930er Jahre (mehr als 3 Millionen Todesopfer) und wurden Opfer des nationalsozialistischen Regimes (etwa 4,5 Millionen Zivilisten starben) und des Terrors Stalins, der sog. Große Terror (fast 4 Millionen wurden gefoltert und nach Sibirien verbannt).
Trotz der Unterdrückung der nationalen Kultur im Bildungs-, Sprach- und Verlagswesen gelang es den Ukrainern, ihre Identität zu bewahren und den Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung als Teil der europäischen Familie durch die schwierigen Jahrzehnte zu tragen.
Wir sind ein freiheitsliebendes Volk
Mit dem Wunsch, Teil des europäischen Raums und nicht der „russischen Welt“ zu sein, begann die moderne Geschichte des ukrainischen Widerstands nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991. Mit drei großen Protestaktionen, den sogenannten Maidans, genannt nach dem Hauptplatz der Unabhängigkeit in Kyjiw (1991 „Student“ (die sog. Revolution auf Granit), 2004 „Orange Revolution“, 2014 „Revolution der Würde“ oder “Euromaidan”) bewies das ukrainische Volk seinen festen Willen, getrennt von Russland zu leben, und seine Ablehnung der willkürlichen Behörden in seinem Land, die vom Kreml abhängig waren. Aus diesem Grund begann Russland 2014 einen Krieg gegen die Ukraine, um das Volk zu unterdrücken und ukrainisches Land unter seinem Einfluss zu halten.
Es ist hervorzuheben, dass die Ukrainer loyal für ihren Willen, ihr Land, ihre Familie und ihre Zukunftspläne kämpfen werden. Und dieser Anspruch verbindet uns mit den Völkern Europas und den führenden Demokratien der Welt.
Sie wissen also, dass die Ukrainer ein altes, freiheitsliebendes Volk sind, unbesiegte Nachkommen der Kosaken, die danach streben, in den europäischen Kulturraum zurückzukehren.
Es handelt sich hierbei natürlich um eine sehr kurze Beschreibung historischer Ereignisse, die keinen Anspruch auf wissenschaftlichen Charakter erhebt und ausschließlich zu Bildungszwecken verfasst wurde. Wer tiefer in die Details und Zusammenhänge eintauchen möchte, findet hier eine Auswahl populärwissenschaftlicher Literatur sowie Links zu Online-Publikationen, die wir bei der Erstellung dieses Artikels verwendet haben.
1. Serhii Plokhy. The Gates of Europe. A History of Ukraine, 2015 (ISBN:9780465050918, 0465050913)
2. Holodomor: Ursachen und Folgen
3. History of Ukraine, Cossack Hetmanate
Diese Initiative findet im Rahmen des Projektes „ProjektFlügel: Empowerment gegen Desinformation“ statt, das von CRISP e.V. und Open Platform e.V. (Mitglied der Allianz Ukrainischer Organisationen) implementiert und von der Landeszentrale für Politische Bildung Berlin gefördert wird.
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